Gut ist es, wenn es ein Wunder ist

Scheinbare Schwerelosigkeit, das Überwinden der Gesetze der Schwerkraft, zierliche Körper, die nur so von Kraft strotzen gepaart mit schier unmenschlicher Beweglichkeit. Das alles zeichnet den Tanz an der Stange aus. Das alles sind Leistungen, die nur mit einem Höchstmaß an Konzentration, Muskelspannung, Rumpfstabilität, Kraft und Flexibilität ausgeführt werden können. Das alles braucht Zeit und Training, oder wie es eine liebe Freundin einmal formulierte: „Alles ist schwer, bevor es einfach wird.“ Ist dem wirklich so? Betrachtet man die bahnbrechenden Fortschritte von Pole Sportlern, die allem Anschein nach in kürzester Zeit möglich sind, dann scheint auch dieses Naturgesetz ad absurdum geführt werden zu können.

Trainingsreize, Zeit und Geduld

Der Pole Sport findet einen und die Erfolge lassen bei regelmäßigem Training nicht lange auf sich warten. Das stimmt. Der Pole Sport hat einen Suchtfaktor, der die Zeitspanne des Lernens und des Meisterns neuer Tricks und Figuren kürzt. Warum das so ist? Ich denke, es hängt damit zusammen, dass man einfach auch einen unheimlichen Ehrgeiz entwickelt, weil man eine Figur können möchte, weil man auch so schön aussehen möchte, weil man die Bewunderung von außen generieren möchte, weil man sich gut fühlen will.

Und auf einmal dreht sich alles um den Pole Sport: Gripmittel, Kleidung, Tutorials, Tipps und Tricks und Training, Training, Training. Wie war das mit den Pausen zur Regeneration des Körpers? Ach egal! Man will an die Pole! Das klappt in vielen Fällen recht gut. Steht beispielsweise ein Unterarmstand oder ein Handstand an der Pole auf dem Stundenplan, so kann man als Trainer zu Beginn reihenweise entsetzte Gesichter sehen und am Ende, wenn es dann (doch) geklappt hat, in die gleiche Reihe von glückseligen Gesichtern blicken. Man ist stolz auf sich, auf seine Leistung, auf seine Kraft, seinen Biss, sein Durchhaltevermögen und auf das Überwinden der (meist selbst gesetzten) eigenen Grenzen. Man fühlt sich gut und die Droge Pole hat einen infiziert. Dennoch bleibt die Gefahr des Überreizens. Irgendwann verlangt der Körper nach einer Pause. Und dann braucht man Geduld. Was für ein blödes Wort, was für eine häufig vermisste Eigenschaft, was für ein Spielverderber.

Man hat sich vielleicht in den Kopf gesetzt, Trick X binnen 20 Stunden Training erlernen zu wollen und hat das auch für machbar gehalten. Dann hat man sich vorgenommen, dass man einfach von Montag bis Donnerstag jeden Tag 5 Stunden an diesem Trick trainiert und am Freitag ein Bild „I nailed the move!“ hochladen kann.

Und am Dienstag verlangt der Körper auf halber Strecke lautstark nach einer Pause. Man kann einfach nicht mehr. Man ist müde, kaputt, ausgelaugt, hat keine Kraft mehr. Ob man will oder nicht, man muss pausieren. In der folgenden Woche sieht es schon besser aus und man kann wieder genau an diesem Trick 2 oder 3 Stunden arbeiten. Man gibt sich geschlagen und überdenkt seine Rechnung neu, nicht ohne dem Ziel treu zu bleiben. Und dann – vielleicht nach 2, vielleicht nach 6 Wochen, vielleicht auch nach 6 Monaten – dann kann man endlich das Foto machen und hochladen und stolz behaupten „I nailed the move!“ Doch statt dass man sich freut ist man missmutig und deprimiert, weil es jetzt anstatt 4 Tagen, 3 oder 6 Monate in Anspruch genommen hat.

Ist das schlimm? Eigentlich nicht, aber es kommt darauf an, welches Bild wir von uns haben und welches Bild wir von uns in der Öffentlichkeit entwerfen wollen.

Der Außeneindruck

Viele von uns generieren aus dem Pole Sport ihre Selbst- und Fremdbestätigung. Ich auch – keine Frage. Es tut einfach wahnsinnig gut mitzubekommen, dass man gerne betrachtet wird, dass den Leuten gefällt, was sie sehen, dass sie bewundern, was wir tun, dass es ihnen schier unmenschlich erscheint.

„Das könnte ich nie!“ – so die häufige Reaktion! „Wahnsinn! Du bist so toll!“ Das geht runter wie Öl!

Und häufig folgt dann sofort die Frage: „Wie lange machst Du das denn schon.“ Und wir antworten. Und schon wieder kommt eine Streicheleinheit: „Erst soooooooo kurz!? Wahnsinn, Hammer, ich bin begeistert!“

Ja, viele Moves, werden diese von einem Nicht-Fachpublikum betrachtet, erscheinen spektakulär und unmenschlich. Dazu gehört schon ein einfacher Lean Back, ein Pole Seat, ein Peter Pan. Figuren, die uns als Szenekenner und Pole Sportler, nicht (mehr) wirklich vom Hocker reißen. Man sieht förmlich, wie es im Kopf des Fragers rattert: Da wird die Leistung und der Körperbau mit den eigenen Möglichkeiten und der eigenen Figur verglichen, da werden Erklärungsversuche angestellt, wie es möglich ist und prompt folgt die zweite Frage: „Aber du hast vor dem Pole Sport schon was gemacht, oder? Also Krafttraining, Tanz, Akrobatik?“ Und auch das können viele Pole Sportler mit reinem Gewissen mit einem „Nein“ beantworten. Und dann kommt im Gegenüber eventuell der Gedanke auf, dass man es dann ja selbst auch theoretisch und vielleicht sogar praktisch können müsste, wenn man auch trainiert.

Und jetzt setzt die Gefahr ein!

Im Moment ist man etwas Besonderes, etwas Außergewöhnliches, etwas (fast) Einzigartiges. Man ist wie eine Blume, die wunderschön duftet und die es nur einmal auf der Welt gibt. Sollte die fragende Person jetzt auch noch mit dem Sport anfangen wollen, dann besteht ja unter Umständen die Gefahr, dass diese Person binnen der gleichen Zeitspanne genauso gut werden könnte. Und wenn das mit immer mehr Personen passiert, dann verliert man seine Einzigartigkeit, dann verliert man seinen Stand der zu bewundernden Person. Aber den braucht man doch! GEFAHR! GEFAHR! Wer das Buch „Der kleine Prinz“ kennt, der weiß, wie es dem kleinen Prinzen erging, als er entdecken musste, dass es auf der Erde ganze Rosenhaine gibt und dass seine geliebte einzelne Rose auf seinem Planeten eigentlich gar nichts Besonderes mehr ist.

Das Selbstbild

Liest man diese Zeilen in ruhiger und gefasster und emotional abgeklärter Stimmung, so wird einem nur in den Sinn kommen, was das für ein Blödsinn ist. So wie auch der kleine Prinz erkannt hat, dass es tausende von Rosen geben kann und seine eine Rose doch immer etwas Besonderes bleiben wird, weil es seine Rose ist. Selbst wenn es Rosen gibt, die größer sind, die besser duften, die noch mehr Farbpracht aufweisen können.

Doch als Pole Tänzer, der sein Selbstwertgefühl aus der scheinbaren Unmenschlichkeit seines Könnens zieht, ist man nicht immer emotional abgeklärt. Und nun fängt unter Umständen die Verbiegung von Tatsachen an. Mit Verbiegen oder Verbiegen wollen kennen wir uns ja schließlich aus. Auf einmal sind es dann keine Jahre mehr, die man Pole macht, sondern nur noch ein paar Monate. Es scheint eine magische 5-Jahres-Grenze zu geben, die irgendwie NIE überschritten werden darf. Man trifft die Personen immer und immer wieder, kennt diese eventuell schon seit vielen Jahren und irgendwie bleibt die Zeitspanne, die sie Pole betreiben immer gleich. IMMER unter 3 Jahren, IMMER unter 5 Jahren.

Auch das Vorwissen wird nicht selten geschmälert: Nein, man habe NIE getanzt, man habe nie geturnt, strickend auf dem Sofa sei man gesessen. Wie gesagt, das stimmt bei vielen und dennoch kann man ganz tolle Fortschritte an der Pole machen. Ich hätte es mir ja selbst auch nicht träumen lassen. Tanzen, Reiten, Turnverein und Ballett - das alles ging spurlos an mir vorüber, dafür musste ich Klavier und Tennis spielen (hat mir aber keinen Spaß gemacht). Aber auch ich konnte auf etwas aufbauen. Ich war vor Pole schon 10 Jahre Fitnesstrainerin und Instruktorin, ich kannte Gerätetraining und rudimentäres Yoga. Doch selbst die vorhandene Muskulatur hilft nicht immer, wenn man die Technik einfach nicht checkt.

Es geht nicht darum, dass es nicht sein kann, dass der Pole Sport ein Übermaß an Naturtalenten vereint, es geht um die Verdrehung von Tatsachen. Bei vielen sind eben doch Vorkenntnisse da, ganz gleich in welche Richtung, die auf einmal verschwiegen werden, als ob man sich dafür schämen müsse.

Als man die Person kennenlernte oder etwas von ihr im Netz las oder einen Zeitungsartikel sah, da war die Rede von „keinerlei Vorkenntnissen“, von „null Auftrittserfahrung“, von „tänzerischem Tabula rasa“. Dabei sind es häufig die Personen, die es in keinster Weise nötig hätten, ihre Erfahrung zu schmälern. Meist sind es sogar die Personen, die einfach nur grandios sind, die man einfach nur beneiden kann, denen man einfach nur wahnsinnig gerne zusieht, weil jeder Move, jede Bewegung toll ist, die da ein wenig das Rechnen zu verlernen scheinen. Warum? Für die meisten Menschen, egal ob selbst auch Sportler, Pole Sportler oder „Normalmensch“ ist und bleibt das Gezeigte sowieso unerreichbar. Ganz egal ob es die Person 2 oder 20 Jahre praktiziert.

Ist es nur gut, wenn es ein Wunder ist?

Was ist aus dem Stolz des Erarbeitens von Erfolgen geworden? Macht es einen Wahnsinnsmove denn schlechter, wenn man zugibt, dass man für diesen eventuell Jahre trainieren musste? Ist es wirklich besser sich auf gott-/ naturgegebenes geschenktes Talent zu beziehen, anstatt sich hinzustellen, für sich und sein Tun einzustehen und zu sagen: „Es ist ein harter Sport und ich muss dafür auch hart trainieren. Es gibt viele Dinge, die ich schon kann, diese sind mir nicht zugeflogen. Ich habe hart trainieren müssen. Ich bin stolz, dass ich es erreicht habe. Aber es gibt auch gefühlte 100000 Moves und Tricks, die ich (noch) nicht beherrsche und ebenso viele von denen ich weiß, dass ich sie nie beherrschen werde.“

Früher (jetzt klinge ich schon wie eine Oma) war Erfahrung doch was wert. Früher war es ein Aushängeschild, wenn man zum Bäcker am Eck ging, der den Betrieb in der 3. Generation führt, der das Handwerk noch von der Pike auf gelernt hat. Heute scheint das alles nichts mehr zu sein.

Erwartungshaltung von außen

Die Verantwortung für dieses Tun ist aber nicht nur denen zuzuschreiben, die so handeln, sondern immer auch als ein Ergebnis zu sehen. Man sucht sich den Weg, der einem am besten erscheint. Das ist menschlich. Keiner macht es sich gerne schwerer, als unbedingt notwendig. Vor einigen Wochen habe ich über das oben beschriebene Phänomen mit einer Bekannten, die ihrerseits seit über 18 Jahren Ballett macht, geredet und sie eröffnete mir eine andere Sichtweise. Die Bekannte ist ein Traum einer Frau: Wunderschön, grazil, kraftvoll, selbstbewusst, beweglich. Zum neidisch werden.

Sie selbst gibt aber offen zu, dass es das Ergebnis harten Trainings ist und dass sie im Training bleiben muss, um so gut zu bleiben. Dass ihr weder Beweglichkeit noch Kraft einfach so zufliegen. Ich quittierte dieses „Zugeben“ mit Respekt und Hochachtung und sie meinte, dass sie es nicht immer gerne so offen zugeben würde. Wenn man außenstehenden Personen sagen würde, man mache jetzt schon 18 Jahre Ballett, dann würde man auch sofort mit einer Erwartungshaltung konfrontiert, der man fast nicht genügen könne. 18 Jahre Ballett = Primaballerina. Los. Zeig mal.

Höher. Schneller. Weiter. Mehr.

Das ist es, was die Gesellschaft erwartet. Wenn wir diesen Ansprüchen genügen, dann sind wir gut, dann ernten wir Anerkennung und Respekt. Jeder Mensch braucht Anerkennung und Respekt, wir hungern danach. Alle. Und ich schlug die Brücke zum Pole Sport. Es kommt eben nicht selten vor, dass man auf die Aussage, man betreibe Pole Dance/Pole Sport, sofort mit der Frage konfrontiert wird, ob man denn dann auch das Iron X oder die Flag könne. Oder die Person zückt das Handy, sucht ein Bild einer Wahnsinnsfigur, zeigt einem dies und fragt, ob man das denn dann auch könne? Und (ich zumindest) muss dann doch nicht selten verneinen. „Achso. Ja dann.“ – Die Enttäuschung steht dem anderen buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Wenn man allerdings die Zeitspanne klein hält (kleiner als sie tatsächlich ist), wenn man mit seinen behaupteten nicht vorhandenen Vorkenntnissen kokettiert, dann kann man noch glänzen, dann kann man möglichst lange toll und bewundernswert sein und bleiben.

Insofern nachvollziehbar, aber irgendwie doch auch traurig, oder?

Motivation oder Demotivation?

Am 21. April 2011 war mein erster Tag an der Pole. Am 15. Mai 2011 wurde meine eigene Pole geliefert und ich konnte richtig anfangen zu trainieren. Das ist mein Pole Birthday. Ich kann den Dead Lift immer noch nicht und ich komme allem Anschein nach auch nicht weiter. Ich will den Phönix können, aber dafür müsste ich den Reverse Spin erst einmal ordentlich auf meiner nicht-dominanten Seite praktizieren. Es ist müßig, anstrengend und demotivierend.

Aber ich weiß auch, was ich geschafft habe und ich weiß vor allem eines: Pole ist mein (sportliches) Leben! Ich liebe den Sport, ich möchte ihn nicht mehr missen, er macht mir Spaß. Und ich werde mir diesen Spaß nicht verderben lassen, weil die Außenwelt meint, dass man mit so und so vielen Jahren Pole Erfahrung aber diesen und jenen Trick schon können müsste, wenn man wirklich von sich behaupten will, man sei gut.

Die Frage nach der Urmotivation bleibt: Tanzt und trainiert man aus intrinsischer oder extrinsischer Motivation? Extrinsisch bedeutet, dass man es tut, um sich oder jemand anderem etwas zu beweisen, weil es der Generator der Daseinsberechtigung und Selbstbestätigung ist. Intrinsisch bedeutet, dass es ein Herzensbedürfnis ist, dass man auch dann tanzt, wenn niemand zuschaut, dass Liebe und Leidenschaft und der Spaß an der Antreiber ist. Meist ist es eine Mixtur. Das Eine nicht ohne das Andere. Braucht man den Pole Sport, weil man ihn liebt – oder liebt man den Pole Sport, weil man ihn braucht? Es ist gut, wenn man etwas macht „nur“ weil es einem Spaß macht. Mehr muss doch in vielen Fällen gar nicht sein.

Eure Nadine Rebel

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